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Könnten Sie ohne großes Nachdenken benennen, wie sich Kompetenzen, Potenziale, Talente, Soft Skills, Fähigkeiten und Fertigkeiten konzeptuell voneinander unterscheiden? Vielleicht werden Sie feststellen, dass das gar nicht so einfach ist. Und gleichzeitig unser täglich Brot in der Personalarbeit: Im Vergleich zu anderen Wissenschaften arbeitet die Psychologie viel mit Konzepten, die so gut wie jeder kennt, und mit Begriffen, die spätestens im HR-Alltag häufig fallen.
Die Konsequenz: Fragen Sie zehn Leute nach einer Definition von „Kompetenz“ – und Sie bekommen oft auch zehn verschiedene Antworten. Häufig sind die Unterschiede zu fein, um eine tatsächliche Auswirkung zu haben, doch manchmal werden sie wichtig und können sogar Probleme auslösen.
Wie lassen sich Kompetenz und Potenzial demnach voneinander abgrenzen? Warum kann Potenzial auch eine „versteckte Superkraft“ sein?
Sensibilität für den Unterschied zwischen Potenzial und Kompetenz schaffen
Vor einigen Wochen habe ich ein diagnostisches Verfahren mit einer besonderen Zielsetzung begleitet. Das Unternehmen, das uns beauftragte, hatte intern ein prestigeträchtiges Development-Programm aufgesetzt, das Potenzialträgerinnen und -träger auf eine Führungsaufgabe vorbereiten sollte. Das Interesse an dem Programm war groß, deshalb musste ein Auswahlverfahren her, das die bestgeeigneten Interessentinnen und Interessenten identifizieren sollte. Ein besonderes „Mischding“ also: Deutlicher Auswahlcharakter, aber mit einem klaren Entwicklungsgedanken. Um die Kompetenzen der potenziellen Führungskräfte zu betrachten, wurden Situationen simuliert, die den Alltag einer frischgebackenen Führungskraft darstellen: Feedbackgespräche, kleinere Präsentationen, Reflexionsrunden zu den Themen Mitarbeiterentwicklung und -steuerung und Austauschformate zum Führungsverständnis.
Schließlich kam es zur Beobachtungskonferenz: Bei fast allen Teilnehmenden waren wir uns einig, doch ein junger Kollege warf Fragen auf. Kurz gesagt: Er hatte in den simulierten Führungssituationen vieles intuitiv richtiggemacht, aber die Kenntnis und ein bewusster Einsatz von Führungsmethodik fehlten. Zudem hatte er große Motivation gezeigt, machte glaubhaft deutlich, sich in der Vergangenheit stetig proaktiv weiterentwickelt zu haben und Herausforderungen nicht nur zu suchen, sondern auch zu meistern. Und schlicht und ergreifend hatte er große Lust auf die Fortbildungsreihe und erkannte viele Chancen für sich und das Unternehmen. Gleichzeitig war er in den Übungen unstrukturiert und wenig verbindlich aufgetreten und Erfahrung mit bewusster Gesprächsgestaltung und dem Umgang mit Mitarbeitenden war kaum vorhanden.
Rein nach den Bewertungen hätte er sich nicht für das Development-Programm qualifiziert. Doch eine Beobachterin erhob Einspruch: Wie könnten wir ein solch hoch motiviertes Talent nicht in Betracht ziehen?
Können Sie erahnen, was hier passierte? Man hatte – vereinfacht gesagt – Kompetenzen und Potenzial in einen Topf geworfen. In Anforderungsanalysen hatte der Kunde festgelegt, die aktuell vorhandene Kompetenzen der Teilnehmenden kennenlernen zu wollen: Welche Grundlagen sind schon da, die im Development-Programm ausgebaut werden sollten? Und tatsächlich zeigt die Forschung: Der statistisch bedeutsamste Faktor, der Leistung in der Zukunft vorhersagt, ist die Leistung in der Gegenwart: Was ich jetzt kann, werde ich in der Zukunft vermutlich auch genauso gut oder besser können. „Falsch“ ist dieser Ansatz also keinesfalls.
Der Beobachterin hingegen waren Potenzialfaktoren der Teilnehmenden wichtiger, die über die aktuelle Leistung hinausgehen: Wie motiviert ist jemand? Ist sie oder er von den analytischen Fähigkeiten her in der Lage, schnell dazuzulernen? Kann sie oder er gut mit Belastungen umgehen? Und dies ist nur eines von vielen Beispielen.
Von Auszubildenden bis zu IT-Fachkräften zeigt sich in immer mehr Branchen, dass die Zeiten vorbei sind, in denen man in Auswahlprozessen diejenigen auswählt, die einen Job am besten beherrschen und die am besten ausgeprägten Kompetenzen mitbringen.
Denn die Bewerbermärkte sind schlicht leergefegt. Wie wäre es also, stattdessen diejenigen einzustellen, die das größte Potenzial zeigen, in der Zukunft große Leistungen zu erbringen? Auf den ersten Blick ein kleiner Unterschied, der aber große Schwungkraft entwickeln kann.
Wie unterscheiden sich nun die Konzepte Kompetenz und Potenzial?
Unserem Verständnis nach versetzen Kompetenzen uns in die Lage, in einem bestimmten Kontext wiederholt erfolgreich zu handeln, also eine gute Performance oder Leistung im Hier und Jetzt hinzulegen. Wenn ich mich z. B. in Führungssituationen häufig angemessen verhalte, Gespräche mit Mitarbeitenden erfolgreich ausgestalte und dafür sorge, mit meinem Team gemeinsam strukturiert auf Ziele hinzuarbeiten, dann spricht das für eine hohe Führungskompetenz meinerseits.
Als Potenzial hingegen definieren wir eine Vielzahl bestimmter Eigenschaften, die es mir ermöglichen, bestimmte Kompetenzen schneller zu erlernen oder weiterzuentwickeln, als Menschen mit weniger Potenzial es können. Das ist ein zukunftsgerichteter Blick und muss nicht heißen, dass ich die Kompetenz schon jetzt mitbringe: Vielleicht zeige ich z. B. eine gute Fingerfertigkeit und habe gleichzeitig ein feines Gehör, dadurch habe ich das Potenzial, ein toller Klavierspieler zu werden. Ob ich je eine Klaviertaste berührt habe, spielt für das reine Potenzial erst einmal keine Rolle.
Zurück zum Beispiel der Führung: Vielleicht bringe ich besondere Kommunikationskompetenz mit und beschäftige mich gerne mit Menschen. Vielleicht entwickle ich schnell viele Ideen, was in dem Bereich, in dem ich arbeite, verändert werden könnte. Vielleicht bin ich strukturiert und flexibel und lerne gerne dazu. Auch, wenn ich noch nie über das Thema Führung nachgedacht habe, habe ich dann das Potenzial, durch diese Eigenschaften wahrscheinlich schneller zu einer guten Führungskraft zu werden als Menschen, die diese Eigenschaften nicht haben.
Vieles spricht dafür, in der modernen Arbeitswelt das Thema Potenzial deutlich höher zu hängen. Das sichere Erkennen von Potenzial ermöglicht es, Bewerbende auszuwählen und Fach- sowie Führungskräfte zu fördern, die die Stützen von Unternehmen und Organisationen von morgen sind.
Wie kann ich Potenzial und Talent im Arbeitsalltag erkennen?
- Das Wichtigste zuerst: Eine hohe Lernfähigkeit ist essentiell. Sie bezeichnet ganz schlicht die Eigenschaft, sich Neues schnell anzueignen. Das können schwierige neue Sachverhalte oder komplexe Zusammenhänge, aber auch neue Verhaltensweisen sein. Und ganz unabhängig davon, in welchem Kompetenzbereich das Lernen stattfindet: Es hat sich gezeigt, dass gute kognitive Fähigkeiten dafür eine wichtige Voraussetzung sind. Die Lernfähigkeit von Mitarbeitenden lässt sich z. B. durch kognitive Tests effizient und treffsicher erfassen. Man kann sie aber auch im beruflichen Alltag betrachten: Arbeitet sich eine Person schnell in neue Themen ein, passt sie ihr Verhalten an veränderte Rahmenbedingungen an?
- Damit hängt die Offenheit für neue Eindrücke zusammen, also die Lust darauf, Neues zu lernen, sowie Neugierde. Das ist nicht dasselbe: Ob jemand gerne dazulernt, lässt wenig Rückschlüsse darauf zu, ob jemand das auch schnell tut. Generell lässt sich Offenheit z. B. daran festmachen, wie interessiert sich jemand an Entwicklungen im eigenen Themengebiet oder darüber hinaus zeigt. Auch Kritik- und Feedbackfähigkeit sowie Selbstreflexion zeigen oft eine große Offenheit an.
- Weiterhin ist die Motivation ein wichtiger Potenzialfaktor: Wenn eine Person Lust hat, sich in eine bestimmte Richtung zu entwickeln, oder gar richtige Ambitionen zeigt, dann ist oft die „halbe Miete schon bezahlt“: Noch viel zu häufig schauen sich Recruiter:innen und Personalentwickler:innen einzig das „Können“ an, während das „Wollen“ auf der Strecke bleibt. Hier hilft nur Fragen: Erkunden Sie mit Ihren Talenten gemeinsam, wo Ihre Vorlieben und ihre Ziele liegen, z. B. in Gesprächen.
- Nicht selten werden auch die Belastbarkeit und Resilienz als Potenzialfaktoren verstanden. Menschen, die mit gewisser „Widerstandskraft“ beständig an sich arbeiten, auch wenn es mal stressig ist oder sich Hindernisse auftun, gehen individuelle Karrierewege oft weiter als andere. Natürlich ist wichtig, gleichzeitig in jedem Fall auf ein gesundes Arbeitsumfeld zu achten und niemanden zu überfordern (oder zu unterfordern).
- Die Liste kann schließlich um spezifischere Potenzialfaktoren ergänzt werden, die bestimmte Kompetenzen fördern. Denken Sie z. B. an Persönlichkeitsfaktoren wie Extraversion, die ein Talent für Berufe darstellen, in denen viel vor größeren Gruppen gesprochen werden muss. Ein weiteres Beispiel ist die Gewissenhaftigkeit, die planerische Berufe erleichtert, bei denen es auf Genauigkeit und Sorgfalt ankommt.
Der Fallstrick: Von Kompetenzen auf Potenzial schließen ist nicht immer folgerichtig
Wichtig ist: Potenzial und Kompetenz hängen eng zusammen, doch lässt sich selten ohne Kontext vom einen auf das andere schließen. Sitzen zwei Führungskräfte vor mir, die in ihrer Rolle gleich erfolgreich sind, kann ich nicht ohne weiteres Wissen erkennen, ob vielleicht eine Person sehr spielend und schnell an diese Kompetenz gekommen ist, während die andere viel Mühe, Übung und Zeit investieren musste.
Es kann also, abstrakt gesagt, sein, dass zwei Personen mit derselben Kompetenz unterschiedliches Potenzial haben. Vielleicht empfiehlt sich Person A dann für weitere Karriereschritte, während Person B dort gut eingesetzt wird, wo sie gerade tätig ist.
Finden und binden Sie Talente, indem Sie deren Potenzial erkennen und entwickeln
Das Fazit:
Sie stehen nicht alleine, wenn auch bei Ihnen die Zeiten vorbei sind, in denen Sie Mitarbeitende mit voll ausgebildeten Kompetenzen finden. Deshalb ist dies ein Plädoyer, zusätzlich das Potenzial von Mitarbeitenden in HR-Prozessen stärker zu berücksichtigen. Denn hiervon haben alle was: Mitarbeitende können sich zielgerichtet in Rollen hineinentwickeln, die sie nicht nur können, sondern auch machen wollen und an denen sie Spaß haben. Gleichzeitig erhalten Unternehmen Fach- und Führungskräfte mit Qualitäten und Kompetenzen, die sie vielleicht am Bewerbungsmarkt nur mit großer Mühe oder gar nicht gefunden hätten. Sie heben Schätze in der eigenen Mitarbeiterschaft. Dies erhöht als toller Nebeneffekt die Bindung ans Unternehmen: Befragungen zeigen, dass Mitarbeitende deutlich länger in Unternehmen bleiben, in denen sie sich gefördert fühlen.
Manchmal erfordert das ein gewisses Umdenken: Wenn man diesen Gedanken konsequent zu Ende denkt, entsteht Personalentwicklung auf Augenhöhe: Sowohl Mitarbeitende als auch deren Führungskräfte und HR prüfen gemeinsam, welche Entwicklungspfade die attraktivsten für alle Beteiligten sind, wobei häufig die Mitarbeitenden das letzte Wort haben (müssen). So können Talente ihr Potenzial und ihre „versteckte Superkraft“ voll entfalten.
Und ich kann Ihnen sagen: Das lohnt sich!